Folkstar Richard Dawson: Blumen gegen das Böse (2025)

Szenen einer Feierabendidylle. Der Vater pfeift fröhlich im Bad, Mutter sitzt auf dem Sofa und liest die gestrige Zeitung. Tochter Jennifer hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um die Fernsehsoap „Neighbours“ zu gucken. Und der Ich-Erzähler, der das alles mit jubilierender Stimme besingt, steht am Festnetztelefon im Flur.

Bis aus heiterem Himmel der Blitz einschlägt, hellstrahlend von Raum zu Raum springt, Panikschreie auslöst und einen Chlorgeruch hinterlässt. Befremdet starrt der Sänger am Ende auf das an der Wand hängende Telefon, das sich in eine „Blume aus verkohltem und verdrehtem Beige“ verwandelt hat.

„Bolt“ heißt der Song, mit dem Richard Dawson sein gerade erschienenes Album „End of the Middle“ eröffnet. Begleitet wird sein Gesang nur von einer sparsamen Akustikgitarrenmelodie, sanftem Schlagzeug und einem dezent gezupften Bass. Der leicht paradoxe Albumtitel bezieht sich darauf, dass Dawson nun, mit bald 44 Jahren, die sogenannten mittleren Jahre erreicht hat. Und auf die englische Mittelschicht, deren Allerheiligstes, das Familienleben, der Folkmusiker schildert.

Porträt der englischen Mittelschicht

So wie Dawson auf seiner achten Platte von Song zu Song springt, mit jeder Szene in ein anderes Zimmer, kann man sich durchaus an eine Fernsehserie wie die „Lindenstraße“ oder deren britisches Vorbild „Coronation Street“ erinnert fühlen. Allerdings geht er dabei assoziativ vor, seine Sprache ist so klar wie poetisch.

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Es geht um Generationenkonflikte, ums Heiraten und Kinderkriegen, das Umziehen oder den Boxing Day, den von Dawson als konsumistisch gegeißelten zweiten Weihnachtstag mit seinen Fußball- und Rugbyspielen. Im Stück „Gondola“, das sich im Tempo kreiselförmig steigert, zieht eine Frau eine bittere Lebensbilanz: „I don’t want any more regrets / My Dreams died like dolphins in a net“. Ihre Träume verendeten wie Delphine in einem Fischernetz.

Folkstar Richard Dawson: Blumen gegen das Böse (1)

© Sally Pilkington

Richard Dawson, der 1981 in Newcastle geboren wurde und dort bis heute lebt, will weder ein Virtuose, noch ein Sklave des Kommerzes sein. Er begann seine Laufbahn mit einer billigen Akustikgitarre. Als sie kaputtging und repariert werden musste, fand er anschließend ihren Klang so einzigartig, dass er jahrelang mit dem Instrument auftrat.

Und sein letztes, herausragendes Album „The Ruby Cord“ begann der Singer-Songwriter 2022 mit einem 41-minütigen-Stück. Es heißt „The Hermit“, also: der Eremit, beginnt karg und leise, wird jazzig und entfaltet sich zu einer Hymne mit engelgleichem Chor und viel Pathos.

Mit Hitparaden hat Dawson wenig zu tun. Sein größter Erfolg war Platz 54 in den britischen Charts mit dem Album „2020“. Kritiker lieben ihn trotzdem, der „Guardian“ nannte ihn „Großbritanniens besten Songwriter“. Ob er inzwischen nicht doch so etwas wie ein Virtuose ist, darüber lässt sich streiten.

Ich wollte, dass es sich wie ein Regenbogen anfühlt, der durch die Stereoanlage platzt.“

Richard Dawson über seinen Song „More than real“.

Das gilt für sein Gitarrenspiel, aber auch für den ausdrucksstarken, enthusiastischen Gesang. Seine Stimme klingt strahlend hell und erinnert an Robert Wyatt. Allerdings fehlt Dawson die ergreifende Brüchigkeit von Wyatt, der vor kurzem 80 wurde.

Man könnte Dawson als Erben der Canterbury Scene der 60er und 70er Jahre sehen, die mit Bands wie Soft Machine, Gong und Caravan verbunden ist und auch mit Robert Wyatt. Nur, dass bei ihm das Prog-Rock-Element kaum vorkommt. Auch das Label Weird Folk würde zu seiner Musik passen. Dawson selbst nennt Qawwali, eine Form von Sufi-Andachts-Musik, und den wenig bekannten englischen Folkmusiker Mike Waterson als Vorbilder.

Schrebergarten mit Flussblick

Bevor Dawson seine Musikkarriere begann, hat er zehn Jahre lang in Plattenläden gearbeitet. 2007 veröffentlichte er seine Debütplatte „Richard Dawson Sings Songs and Plays Guitar“. Er spielt den schönsten, sanftesten und seltsamsten Folk der Welt. Die Texte zu „End of the Middle“ schrieb Dawson wie ein Eremit in seinem Schrebergarten mit Blick auf die grünen Hänge des River-Tyne-Tals. Gestört wurde er dabei nur von Wespen, die manchmal in seiner Teetasse landeten.

„End of the Middle“ versammelt neun minimalistische Songs. Seinen Drummer bat Dawson, so leise zu spielen, dass er „das Schlagzeug kaum berührt“. Die Klarinettistin Faye MacCalman steuert Akkordausbrüche bei, die nach einem Freejazz-Saxofon klingen. Das Zusammenspiel wirkt mitunter wie eine Jamsession, aber dem Songwriter geht es um Klarheit und Präzision.

„Das Album zoomt ganz nah heran und versucht ein typisches englisches Familienhaus der Mittelklasse zu erkunden“, sagt Dawson. „Wir hören uns die Geschichten von Menschen aus drei oder vier Generationen ein und derselben Familie an.“

Die Platte endet elegisch, mit der Ballade „More than real“. Synthesizerakkorde glitzern, ist das eine Harfe im Hintergrund oder die Gitarre? „Ich wollte, dass es sich wie ein Regenbogen anfühlt, der durch die Stereoanlage platzt“, so Richard Dawson. Er singt erst im Wechsel, dann zusammen mit seiner Lebensgefährtin Sally Pilkington. Sie nehmen Abschied von einer Vaterfigur, die im Koma liegt. Reinster, anrührender Pop.

Folkstar Richard Dawson: Blumen gegen das Böse (2025)

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